Der Geschichtenzerreißer – Zweiter Teil

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Welch ein Schrecken, als die bebrillte, toupierte Rektoratssphynx Frl. Sebald -damals gab es noch etliche Fräulein jenseits der 40 und niemanden störte dies – kurz darauf ankündigte, daß Cronenberg auch die Turnstunde nächste Woche halten würde, was, außer dem Umstand selbst, dadurch noch unheilschwangerer wurde, da man in kindlicher Arithmetik zwei schlechte Umläufe hintereinander durchaus schon als unguten Wink des Schicksals verstand. Jedenfalls war dies schon mehr als einfaches Pech.
Die Aussicht auf Wiederholung war peinigend. Mit einem anderen Jungen zusammen schlich ich mich dann schließlich vor besagter Turnstunde fort, schlechten Gewissens und in der Hoffnung, Cronenberg würde es nicht bemerken im Gewühl von 40 ihm persönlich unbekannten Buben in schwarzgrauer Turnercamouflage, aber irgendjemand verpetzte uns. Natürlich hatten wir uns originelle Ausreden zurechtgelegt: Kopfschmerzen beziehungsweise Bauchweh. Aber die Nichtabmeldung wurde uns vorgehalten. Während es Klassenlehrerin Frau Leu bei der Rüge und einer Strafarbeit belassen wollte, bestand Cronenberg auf einer Bestrafungsaktion und sabotierte die Entscheidung von Frau Leu, indem er alles dem Rektor meldete, der uns nun zu einem Arrest verdonnerte. Immerhin erfuhren wir so den Namen des Petzers, den Frau Leu wohlweislich nicht nennen wollte: Cronenberg belobigte den Verräter vor unserer Klasse. Pflichtbewußt und treu habe der gehandelt, indem er uns, die beiden kriminellen Subjekte, brav gemeldet habe. Erhard Tümmler ausgerechnet, der Dickste der Klasse, der, den Cronenberg letzte Woche am übelsten gedemütigt hatte!
Bald mußten wir beide an einem Nachmittag antreten. Zuerst sollten wir je in einer Ecke stehen, dann rief Cronenberg uns zur Tafel und stellte uns vor seiner ganzen Klasse an den Pranger. „So sehen Schulschwänzer aus!“ behauptete er und forderte seine Schüler zum genauen Studium unserer „Physignomien“ auf. Die Meute gaffte feixend unisono. „Wißt ihr überhaupt, was das ist, eine Physignomie?“ herrschte er nun uns an, wir verneinten. “Ja lernt ihr denn gar nichts, Menschenskind? Nun, woran erkennt man nun den Schulschwänzer?” Seine Drittklässler fraßen ihm aus der dürren, gichtigen Hand, streckten zahlreich die Arme mit schnalzenden Fingern und erklärten es. „Mutmaßungen über unsere Augen-, Nasen-, Ohren-, und Stirnformen, Haaransätze und Körperformen prasselten dutzendfach über uns herein. Während mein Klassenkamerad mit den Tränen kämpfte, rettete ich mich in stoische Verachtung; nicht, daß ich besonders beherrscht gewesen wäre, aber vor so einem Unmenschen durfte man keine Schwäche zeigen. „Der grinst auch noch!“ empörte sich Cronenberg, dabei tat ich das gar nicht.. „Das wird dir schon noch vergehen! Studiert jetzt genau seine Visage.“ Dieses Fremdwort kannte ich bereits, und studierte während der Prozedur meinerseits die “Visage” Cronenbergs. Der bemerkte dies, ich hielt seinem Blick stand und er zeigte erstmals Anzeichen von Verunsicherung.
Nachdem sich die Spekulationen über unsere vermeintlichen pathologischen Anomalien erschöpft hatten, hieß er uns in eine Bank sitzen und einen Aufsatz schreiben zum Thema: „Wie ich neue Schuhe bekam“. Wie kam er jetzt da drauf und was sollte man dazu nun sagen? Mit Eltern in den Laden gegangen, rumgeschaut, zwei, drei, vier Paar anprobiert, nach Preis gefragt, bezahlt, heimgegangen – wen interessierte das? In unserer zweiten Klasse hatten wir noch nie einen Aufsatz geschrieben und ich witterte eine Falle, denn schon damals hatte ich die gefährliche Neigung, die Anforderungen, die andere an mich stellten, erheblich zu überschätzen. Ich war ratlos. Dann kam die Idee: Ich erfand eine lustige Geschichte, die im Schuhgeschäft spielte wobei ein kleiner Hund alles durcheinanderbrachte, indem er einen der mitgebrachten Schuhe einer vornehmen Dame während der Anprobe schnappte und damit davonlief. Kein anderer Schuh im Laden aber paßte, und so kam sie mit nur einem alten Schuh statt mit einem Paar neuen nachhause. Plötzlich schien mir die Strafe zum Gewinn zu werden; wann schreibt man schon als Siebenjähriger eine Kurzgeschichte? Ich war nun entschlossen, die von Cronenberg gewollte Demütigung in einen Triumphzug zu verwandeln , schrieb wie im Flug, erstmals in meinem Leben, versuchte dabei auf kindliche Art, die Dame, die Verkäufer, andere Kunden und den Hund zu skizzieren.
Die Zeit war um. Cronenberg hieß uns vorlesen. Mein Mitdeliquent hatte penibel das notiert, was mir zu banal erschienen war. „Letztes Jahr zu Weihnachten…“ hob er an, und las vor, wie er mit den Eltern in den Laden gegangen war, mehrere Paar anprobiert hatte und eines davon zu günstigem Preis gekauft wurde. Bezahlt wurde schließlich an der Kassa, dieses Wort war der originelle Höhepunkt der Schilderung und löste allgemeines Lachen aus sowie den Schülerchor: „Kassa? Das heißt doch Kass-eeeh!“ belehrte man den österreichstämmigen. Cronenberg lobte dessen Bericht in höchsten Tönen, schüttelte meinem Mittäter sogar die Hand und versicherte ihm, daß er präzise und getreu berichten könne, was ihn vielleicht doch noch von der als Schulschwänzer begonnenen mutmaßlichen Straftäterkarriere retten könne, wenn er weiterhin so fleißig und gehorsam wäre. „Und nun du!“ forderte er mich auf vorzulesen. Meine Geschichte trug den Titel „Der Mops im Schuhgeschäft“, was viele lustig fanden, und begann aufgeregt mit dem Satz: „Gestern sollte ich neue Schuhe bekommen…“. – „Was gestern? So ein Zufall!“ polterte Cronenberg dazwischen und lachte. Nach zwei Sätzen schon, als der Hund sich in den Laden schlich, und heimlich an diversen Schuhen schnupperte, lachte die ganze Klasse laut und vergnügt. „Ist das etwa erfunden?“ fragte Cronenberg. „Ja, eine lustige Geschichte“ antwortete ich unbefangen und stolz und wollte weiterlesen. „Schluß, aus!“ brüllte Cronenberg, riß mir die Blätter aus der Hand und zerfetzte über dem Papierkorb mein Manuskript. „Was fällt dir ein! Das interessiert doch keine Sau! Hab ich dir etwa aufgetragen, etwas zu erfinden? Und jetzt raus hier, aber dalli!“ Unter dem von Cronenberg eingepeitschten und mit fast hysterisch wedelnden Armen dirigierten Hohngelächter der Drittklässler durfte ich mich vertrollen. „Schulschwänzer! Schulschwänzer!“ hallte es mir noch bis in die leeren Gänge nach. Als ich draußen allein war, konnte ich die Tränen nicht mehr zurückhalten, verkrümelte mich auf eine abgelegene Parkbank und heulte gegen meinen Willen Rotz und Wasser. Ich hatte etwas entdeckt, ich hatte mir Mühe gegeben und es war gelungen und zu Ende gebracht! Und Cronenberg hatte doch vorher gar nicht gesagt, daß ich nichts erfinden dürfe. Meine erste geschriebene Geschichte, zerfetzt und ungelesen! Es fühlte sich grauenhaft an, lang noch streifte ich, Passanten ausweichend, im Park herum, das furchtbare Gesicht des Lehrers vor Augen und das Hohngelächter seiner Klasse in den Ohren, bis ich gesammelt genug für den Heimweg war.

-Fortsetzung folgt-

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