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Einige Zeit verfolgte mich der Vorfall heftig, das böse Gesicht des Lehrers, das Hohnlachen der Meute hatte sich mir unter die Haut gefressen. Allzunah erschien mir dieses Gesicht als Fratze, besonders vor dem Einschlafen, wieder und wieder, mächtig schien sie und unbesiegbar. Ich konnte sie nicht verscheuchen.
Ja, ich hatte mit dem Schwänzen eine Übertretung begangen und hätte eine angemessene Bestrafung akzeptiert. Frau Leu hatte mir ernst ins Gewissen geredet, mir ein Versprechen abgenommen und die Strafarbeit, die sie mir aufbrummte, hatte ich ohne Widerwillen erledigt.
Nicht aber der Arrest, nicht die doppelte Bestrafung samt der Entmachtung der Klassenlehrerin, die ich als allein zuständig für uns empfunden hatte, nicht einmal die Verhöhnung durch seine Schüler, hätten mich viel mehr als einen Tag oder zwei verärgert. Daß es Ungerechtigkeiten gab, bösartige und gemeine Menschen auch unter Lehrern, das war eben so. Aber die Willkür und Maßlosigkeit Cronenbergs, das Aufhetzen seiner Klasse aber besonders das Zerreißen meiner Geschichte erschien mir immer wieder geradezu als ein Verbrechen, das seinerseits nach Sühne schrie! Die Ohnmacht und Demütigung, die mich anfangs erschütterten, schlug in grimmigen Zorn gegen das Ungeheuer, zu dem er wurde, um. Doch irgendwie spürte ich, daß mich der Vorfall mit diesem Sadisten über diesen selbst hinaus aufwühlte, als sei er ein Geschehen gewesen, das mich in meinem Leben verfolgte; ich stand allein damit, konnte dieses übergeordnete, schicksalhafte daran nicht benennen, also schwieg ich ganz über den Vorfall, gegenüber den Eltern, der Klassenlehrerin, sogar gegenüber meinen Freunden. Zwar beruhigte sich alles nach kurzer Zeit, doch der Stachel steckte noch tief in mir. Immer, wenn ich Cronenberg einmal im Schulgang sah, packte mich sofort heiße Kampflust und ich sah ihm mit grimmigem Blick in die Augen. Wie freundlich und fürsorglich er mit seinen Drittklässlern anscheinend sein konnte, mit denen er in den Pausen scherzte, verblüffte mich allerdings, das paßte nicht zusammen, so wie in dieser Turnstunde nichts zusammengepaßt hatte.
Nur wenige Wochen später hatte ich erneut eine erschütternde Begegnung mit dem Geschichtenzerreißer: er hatte die Pausenaufsicht über den Haufen blechbüchsenkickender Jungen und den Schwarm springseilschlagender oder gummitwistender kreischender Mädchen inne, über diesen wundersamen Schwarzmarkt, wo man mit Murmeln um Spielzeugautos schacherte, seltene Klebebilder gegen Kaugummis oder Fruchtsäfte versteigerte, und Salamiwecken gegen Schokoschnitten eintauschte; wo man mit Brauselutschern um die Gunst angeschwärmter Feen warb oder spitzzüngige Zimtzicken an Zöpfen zog, die dann ihrerseits die gute Kinderstube vergaßen, wahlweise kratzten, einen ins Ohr bissen oder – falsch Zeugnis ablegend- petzten, was das Zeug hielt, wohlwissend, daß ein Junge niemals ein Mädchen schlagen würde.
Cronenberg blies plötzlich in die Trillerpfeife und das wild wirbelnde Leben erstarrte auf einen Streich. „Der Hofdienst zu mir!“ brüllte er im Befehlston. Es wechselten nach dem Prinzip der schwäbischen Kehrwoche quer durch alle Klassen die diversen Pausendienste, die wiederum innerhalb dieser Klassen jeweils auf bestimmte Schüler verteilt wurden. Die mit mir fünf Diensthabenden gesellten sich zu ihm. Cronenberg zückte Block und Stift, und hieß uns der Reihe nach vortreten. „Wie heißt du, Junge?“ fragte er mich und notierte den Namen. „Wer ist dein Klassenlehrer?“ – „Aber die Frau Leu!“ erwiderte ich fassungslos. Cronenberg erkannte mich nicht, hatte mich glatt vergessen! Für den Geschichtenzerreißer war ich ein Unbekannter! Glühend starrte ich ihn an. „Tut nun brav euren Dienst“ nuschelte er „sonst melde ich es der Klassenlehrerin.“ Er erinnerte sich an nichts. Ich hatte geheult um meine Geschichte, stunden- und nächtelang hatte er mein Gemüt vereinnahmt; hatte mich an einer Stelle angegriffen, wo ich mich nicht wehren konnte, schwebte als grausame Fratze manche Nacht über meinem Bett und höhnte dort weiter und weiter. Und nun stand dieser Mensch vor mir und kannte mich nicht einmal?
Aller Zorn brach sich Bahn und mit diesem schwand vollends jedes peinigende Gefühl der Ohnmacht. Ich wollte und konnte das nicht auf sich beruhen lassen; ich wollte verstehen, was diesen furchtbaren Mann trieb, und es drängte durchaus, mich irgendwie an ihm zu rächen. Die große Pause, das geliebte Refugium in dieser Anstalt, in die man eben mußte, die einen tief im Innern nichts anging, opferte ich bereitwillig, um den Geschichtenzerreißer zu studieren. Ich setzte mich auf eine abseitige Mauer und ließ Cronenberg nicht mehr aus den Augen. Studierte das vergeßliche Unwesen eine ganze Woche lang. Es war wie damals in der Turnhalle: Minutenlang war er wie gar nicht anwesend, schlurfte ziellos herum. Doch immer wieder brach plötzlich das Unheimliche durch. Das Gesicht verzog sich zur Maske; man erkannte ihn fast nicht mehr wieder, böse Blicke funkelten auf dieses oder jenes Grüppchen Kinder, wie kalte Flammen. Und manchmal sprang ihm dann dieses böse Feuer in alle Glieder, und dann sprang er auf irgendwelche Kinder zu, herrschte sie an und beleidigte sie. Dies schien ihn jedesmal sehr zu erschöpfen. Anfangs fürchtete ich, er würde mein Ausspähen entdecken; doch je länger ich auf dem Posten blieb, desto freier wurde mir; nach zwei Tagen schon war es, als könne ich seine Stimmungswechsel vorausahnen; und als meine Prognosen treffend wurden, schwand die Furcht ganz. Wie ein Jäger fühlte ich mich, immer siegesgewisser, aller Gram entschwand aus meinen Gliedern.
Als er dann einmal einen Jungen, der ihn im Zuge der üblichen Vefolgungsjagden versehentlich gerempelt hatte mit der Pfeife zu sich befahl, ihn brutal anherrschte und an den Ohren zog, ging es mir auf: seine Brutalität war nicht persönlich; denn dieser Junge war sein Lieblingsstreber aus der ersten Reihe, selbst ihn hatte er zunächst nicht erkannt. Er schien manchmal einfach alle Kinder zu hassen, ja sogar das ganze Leben! Er war krank. Mehr noch: er war gar kein richtiger Mensch, durchfuhr es mich. Dies alles rief Befremden, sogar Mitleid hervor. Ich stellte mich nun auf die Mauer starrte ihn von weitem an, er bemerkte dies und schaute zurück, erst fragend, dann erstaunt, schließlich sah ich einen kalten, entrückten Wahnsinn, der sich in ein trostloses Nichts verlor. Ja, da war jetzt gar kein Mensch mehr hinter diesen Augen; es gab einen zweiten Cronenberg, der war nur kalte irre Maske! Er senkte den Blick, wandte sich ab und schlurfte wieder ganz abwesend von dannen. Bald riß ich mich aus dem Befremden und sprang triumphierend von der Mauer, stürzte mich jubelnd in eins der tobenden Spiele.
Es schien alles überwunden, und ich dachte seitdem kaum noch an die Begebnisse mit Cronenberg. Es war vorbei. Frau Leu verabschiedete uns bald darauf in die großen Ferien und teilte mit: “Im neuen Schuljahr wird entweder Herr Ettrich euer neuer Klassenlehrer werden, oder aber Herr Cronenberg.” Das durfte nicht wahr sein!
-Fortsetzung folgt-
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