Der Geschichtenzerreißer – Vierter Teil

4

Der Sommer und die Urlaubsfahrt entführten mich fast ganz vom Geschichtenzerreißer. Erst in den letzten Ferientagen stand mir die furchtbare Möglichkeit wieder vor Augen. „Nicht Cronenberg, bitte nicht Cronenberg!“ war mein Stoßgebet. Auf dem ersten Schulweg raste mein Herz.
Der Gedanke, daß ich diesem furchtbaren Menschen zwei Jahre lang Tag für Tag ausgeliefert sein könnte war unerträglich, es durfte einfach nicht so kommen. Wie ein Mantra setzte ich mein “Bitte nicht, nein, nein, nein!” bis vor die Pforte fort. Ins fremde neue Klassenzimmer trat nach Minuten bangen Wartens Herr Ettrich. Der Kelch war vorübergegangen. Vor lauter Begeisterung war es mir, als habe ich mit Unterstützung von oben eine Schlacht gewonnen. Tief hatten sich Angst und Abscheu in mich eingenistet, die nun aus mir wichen. In die erleichternd aufatmende Dankbarkeit strömte eine dunkle Welle des Zorns und des Triumphs.

Darin schwelgte ich herum, hörte Ettrichs Antrittsrede kaum zu, bis es an der Tür klopfte -herein trat Frl. Sebald mit einem Umlauf. Wieder geriet ich in Aufruhr: würde der Geschichtenzerreißer etwa unsere Turnstunden leiten? Sie verkündete, sie habe traurige Nachrichten. „Herr Cronenberg ist am Ende der Ferien nach langer Krankheit verstorben.“ Die Nachricht schien außer mir keinen zu berühren, keiner von uns hatte außer den Turnstunden je Unterricht bei ihm gehabt; mich riß sie jäh aus meinen Wallungen. Ich kämpfte gegen ein sofort aufkeimendes Schuldgefühl an und hoffte, daß man mir dies nicht ansah. Zwar hatte ich in meiner Verletzung Cronenberg durchaus einmal sogar den Tod gewünscht, er sollte einfach weg sein; aber langsames Siechtum hatte ich ihm nicht an den Hals gewünscht. Und hatte nicht jüngst noch Schwester Agnes, die Religionslehrerin, gesagt, der liebe Gott allein entscheide, wann ein Mensch stirbt? Dennoch machte sich ein flaues Gefühl in mir breit. Ich ahnte nun wohl, daß diese Krankheit etwas mit seiner Grausamkeit zu tun haben könne. Der Mensch war todkrank gewesen und ich hatte, seit dieser Turnstunde, nur schlechtes und böses über ihn gedacht.
Plötzlich trat Frau Leu ins Klassenzimmer, unsere alte Klassenlehrerin. Nachdem diese mit Herrn Ettrich getuschelt hatte, bat sie mich sowie zwei andere Jungen und fünf Mädchen nach draußen, alle Teilnehmer des freiwilligen Musikkurses in der ersten Klasse. Sie sagte, übermorgen werde es eine Trauerfeier für Cronenberg geben und fragte, ob wir dort auf Wunsch der Witwe Flöte spielen würden. Ohne eine Sekunde nachzudenken entfuhr mir ein lautes “Nein!”; die Leu war so verblüfft über die entschiedene Weigerung, daß sie nichts weiter sagte. Tags drauf nahm sie mich jedoch im Hof beiseite und fragte, warum ich nicht auf der Feier spielen wolle. Cronenberg und kein Ende! Der lag doch unter der Erde und schien mich immer noch zu verfolgen. Ausreden waren unter Frau Leus streng aufforderndem Blick sinnlos, also traute ich mich: „Ich konnte Herrn Cronenberg nicht leiden, und dann wär das doch dann nicht richtig, wenn ich auf der Trauerfeier…“ Frau Leu, bekannt als Verächterin jeglicher Heuchelei, sah mir fest und prüfend in die Augen: “Ist etwas vorgefallen?” Ich nickte und bald erkannte sie, daß ich nichts erzählen wollte und sagte: „Ist in Ordnung“. Erleichtert sprang ich zum Schulhof zurück, nun völlig frei von jeglichem schlechten Gewissen.

Tags drauf wurde den Schülern eine Stunde freigegeben, um mit den Lehrern an der Trauerfeier im Rektorat teilnehmen zu können, aber dieses können hieß wohl müssen. Alle pilgerten nun zum Lehrerzimmer, mancher Lehrer in schwarz; Frau Leus gestrige Worte nahm ich als inoffizielle Legitimation, auch der ganzen Feier für den Geschichtenzerreißer fernbleiben zu dürfen. Sicher war ich mir da aber nicht. Falls sie mich jetzt entdeckten und wieder bestrafen würden – Cronenberg jedenfalls könnte es nicht mehr an mir exerzieren und Kastenmann, der frühere furchtbare Rektor, war auch fort und durch den gütigen und allseits beliebten Dr. Blessin ersetzt worden, den alle mit dem Titel grüßten, obwohl er dies durchaus nicht wollte. Der würde mir nichts schlimmes tun, das war gewiß. Ich ließ mich zurückfallen und es gelang mir, unbemerkt im Klassenzimmer zu bleiben, wo ich nun erstmals ganz allein war. Was für ein eigenartiges Gefühl! Der Raum wurde fremd, während ich zu wachsen schien. Der eigentümliche Geruch von Bohnerwachs und Kreidestaub reizte meine Nase. Den hatte ich seit Jahren nicht mehr wahrgenommen. Ich war ich. Erstmals auch hier. Mit dem Lehrer und den anderen Kindern schien sich die ganze Schule zu entfernen, von und aus mir. Ich schlenderte durch die Reihen und inspizierte das Stilleben der zurückgelassenen Ranzen, Bücher, Füller und Hefte, die Handschriften darin, mir war, als habe jeder Junge und jedes Mädchen darin und in den Anordnungen einen Abdruck von sich hinterlassen. Von dem, was man wirklich ist, wenn man nicht hier drinnen Schüler spielt.

Durch den Türspalt hörte ich nun die hohen, falschen Flötentöne von Cornelia, die hinterhängenden von Astrid und Klaus, sowie die wichtigtuerisch lauten von Gertrud mit dem breiten Kopf und den dicken Zöpfen, die als einzige eine Altflöte besaß. Ich lachte. So war es schon gewesen im Flötenkurs bei Frau Leu, wo man aber immerhin Noten lesen und Taktarten lernen konnte. Wie wundervoll, nicht mitspielen zu müssen! Der ursprünglich drei- und nun unfreiwillig fünf- bis sechsstimmige Flötensatz von „Nehmt Abschied Brüder“ wurde bald ohnehin übertönt vom inbrünstigen Kreischen des Chores der Gesangslehrerin Savatzky, die immer wie ein Verkehrspolizist dirigierte und ihren einsatzgebenden Zeigefinger oft so dicht an die Kindermünder streckte, daß man in Versuchung kam, hineinzubeißen. Ich freute mich diebisch, sprang über Pulte und Stühle. Die Musik verstummte, ich lauschte. Cronenbergs unermüdlicher Einsatz zum Wohle der Schüler wurde nun draußen vom Rektor gerühmt – ich gedachte in gut 20 Meter Abstand wenigstens einer seiner Verfehlungen an diesen; derart nahm ich irgendwie doch an der Feier teil, anscheinend auserkoren den verschwiegenen Teil der Wahrheit wenn auch nicht laut auszusprechen, so doch wenigstens erinnernd, nun endlichen ohne Groll, zu ergänzen. Das Gedudel hob wieder an, ich sprang umher, schleuderte den klitschnassen Schwamm übermütig donnernd an die Tafel. Weitere Elogen von draußen verhallten hohl und unheimlich in den leeren Gängen. Bald bimmelte es zur Pause und rasch mogelte ich mich unter das sich nun zerstreuende Völkchen. Knäuel entwirrten sich und schwärmten zur Pause aus. Zum Gedenken an Cronenberg setzte ich mich ein letztes Mal fünf Minuten auf meinen alten Spähposten, ich hatte immerhin Gefallen gefunden am Physignomiestudium, und sah in viele Gesichter. Niemand trauerte. Selbst die jetzigen Viertklässler Cronenbergs tollten und tobten wie immer und auch die Lehrer waren wie immer. Keine Spur von Trauer. Mit einem Sprung von der Mauer riß ich mich nun endgültig von diesem Kapitel dieser Geschichte los.

Fortsetzung folgt

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